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16.11.2004

 

Ein Denkfehler wird zum System

Das Schwarze Loch der globalen Ökonomie

Bericht von Prof. Dr. Arno Gahrmann

Worum geht es, wenn private Betriebe und öffentliche Einrichtungen geschlossen, Mitarbeiter entlassen und um des „Standortes Deutschland“ willen Feiertage gestrichen werden? Und wenn 50 Cent zu viel sind, um bei der Reifenherstellung auf Krebs erzeugende Stoffe zu verzichten?

Es sind immer die Kosten, die scheinbar keinen anderen Ausweg zulassen. Aber wer fragt, was diese ominösen Kosten sind, denen wir uns zu unterwerfen haben? Es ist gespenstisch wie in Kafkas „Prozess“: Unsere Gesellschaft liefert sich und die Mitwelt dem Kostengericht bedingungslos aus. Und sie nimmt die an Menschen und Natur statuierten Urteile hin, ohne zu wissen, wer sie ausspricht und was das Verwerfliche an den Kosten sein soll.

Die Wirtschaftswissenschaften quellen über von Ansätzen zur Erfassung und Berechnung der Kosten und von Methoden zu deren Verringerung. Indessen sind ihre Aussagen zum eigentlichen Wesen der Kosten beschämend dürftig. Da gibt es lediglich die Definition des Werteverzehrs. Was dieser Begriff ausdrückt und Kosten als etwas grundsätzlich Negatives erscheinen lässt, das ist eine urtümliche Erfahrung des Knappen und Unwiederbringlichen, eben des „Kostbaren“.

Dies ist augenscheinlich beim Verbrauch endlicher Rohstoffe oder knappen Landes gegeben. Jedoch: Worin besteht der Werteverzehr bei der menschlichen Arbeit, solange sie die Gesundheit nicht schädigt? Und: Was ist mit den Zinskosten, die direkt und indirekt ein Viertel der Produktionskosten ausmachen? Hier geben Vermögende ihren nicht benötigten Geldüberschuss an Unternehmen und an den Staat quasi zur Pflege ab. Hierfür über die Geldentwertung hinausgehend Zinsen zu verlangen, kann man als eine fragwürdige Subventionierung der Vermögenden ansehen; ein Verzehr irgendwelcher Werte ist es keinesfalls.

Einen passenden Schlüssel liefern uns die Buchhalter: Für sie sind alle Vorgänge „Kosten“, die das reine Vermögen mindern. Und zwar das ökonomische Vermögen, das um jeden Preis erhöht werden will, sei es mittels Zinsen oder mittels Gewinnen aus dem in Unternehmen steckenden Geld.

Höhere Kosten treffen einen finanziell knappen Betrieb genauso hart wie eine mittellose Gemeinde. Aber in der Standortdebatte wird tunlichst verschwiegen, dass die betrieblichen Kosten und die öffentliche Verschuldung deutlich geringer sein könnten, wenn sich die Gläubiger mit weniger Zinsen und die Eigentümer mit geringeren Gewinnen zufrieden gäben. Und verschwiegen wird, dass Staat und Unternehmen nicht ihre letzten Reserven auspressen müssten, wenn sich die vermögenden Staatsbürger und Konsumenten weniger geizig bei Steuern und Preisen zeigten.

Welch unfassbarer Freiraum für eine nachhaltige Gestaltung der individuellen wie gesellschaftlichen Zukunft täte sich auf, leistete auch das Vermögen seinen Beitrag dazu. Verzichtete es nur zwei Jahre lang zugunsten des Staates auf die Zinsen und Bruttogewinne in Höhe von jährlich rund 600 Milliarden € (Deutschland, ohne Unternehmerlohn), wäre die gesamte öffentliche Hand schuldenfrei.

Die durch die Verschuldung verursachte Blockade von Leistungsnachfrage und -erstellung wäre mit einem Schlag aufgehoben. Und mit einer deutschen Zins und Gewinnspende zweier weiterer Jahre wäre die Schuldenlast der Dritten Welt (ohne China) abgetragen. Doch hieran zu rühren, das wäre ein Sakrileg an einem geradezu heiligen Anrecht auf Vermögensmehrung.

Nicht nur das Geld in unmittelbarer Form sichert uns mittlerweile Leistungen Dritter und damit die materielle Existenz, sondern ebenfalls das verliehene Geld, das zudem noch zusätzliche Geldbeträge, nämlich Zinsen einbringt. Und das in Produktionsgüter gesteckte Geld vermag uns – geschicktes Investieren und Agieren vorausgesetzt – sogar einen noch höheren Geldzufluss („Gewinn“) und damit noch mehr Ansprüche auf Leistungen Dritter zu verschaffen.

Der Wert dieses Eigentums bemisst sich nun letztlich an dem Geldertrag, den man hieraus zu erzielen „vermag“ – eben dem Vermögen. Dies wird offensichtlich am Auf und Ab des Aktienvermögens, es schlägt sich aber auch bei scheinbar solidem Vermögen wie Grundstücken nieder, deren Wert absehbaren Änderungen in den Nutzungsmöglichkeiten (verbesserte Infrastruktur oder auftauchende Altlasten) nachläuft. Und genau so berechnet sich der Preis von Menschen – Sklaven oder Fußballer – anhand der mit ihnen erzielbaren Einnahmen.

Das Kriterium der realen Knappheit wird bei der Frage nach der Minderung oder Mehrung von Vermögen (Kosten beziehungsweise Gewinn) unerheblich: Gute Luft und stille Täler, freie Aussichten und Mußetage können kostenlos von der Ökonomie verwendet und verbraucht werden, obwohl sie für die Menschen kostbar sind.

Wird dieser Sachverhalt unter dem Begriff der „externen“ Kosten zumindest diskutiert, taucht dessen Umkehrung kaum in der Öffentlichkeit auf, und ist doch der tiefe Grund für den beklagten Verlust des Menschlichen in der Wirtschaft. Grundsätzlich unbegrenzte Kräfte von Mensch und Natur („die Fülle des Lebens“, um mit Duchrow zu sprechen, der in seinen „Alternativen zur kapitalistischen Weltwirtschaft“ mit beklemmender Deutlichkeit die Verdrängung von Leben durch Eigentum nachzeichnet) werden plötzlich zu ungeliebten Kosten und Knappheitsfaktoren, indem sie zu Eigentum erklärt werden, dessen Nutzung mit einer Prämie entgolten werden muss.

Früher selbstverständliches Allgemeingut an Genen, Bildern, Entdeckungen, Ideen, Namen und Inselstränden (die sich das Land Niedersachsen von den Inselgemeinden abkaufen lassen will) wird zu Eigentum und engt nicht nur Bauern, Künstler und Tüftler ein, sondern lässt Bürgern vertraute und geliebte Einrichtungen wie das Hamburger Volksparkstadion zu einer fremden AOL-Arena und Patienten zu distanzierten „Kunden“ werden.

Und dass Arbeiten überhaupt „kostet“, obwohl es selten ein real knappes Gut ist, sondern vielmehr gern geleistet wird, ist schlicht darauf zurückzuführen, dass den meisten Menschen mangels ausreichendem sonstigem Vermögen oder sonstiger materieller Absicherung nichts anderes übrig bleibt, als ihre Arbeitskraft zu einem kostenpflichtigem Eigentum zu erklären, behaftet mit dem hässlichen Odium der Personalkosten. Nur die in und von Gemeinschaften wie Familienbetriebe, Genossenschaften oder Klöster lebenden Menschen können sich und ihre Arbeit noch geschätzt wissen.

Selbst mit der Frage nach dem Preis der Sonne müssen wir uns vertraut machen. Und zwar dann, wenn wir annehmen, dass vergleichbar den UMTS-, Ölförder- oder Fußballübertragungslizenzen die Rechte an der Sonnennutzung dereinst von den völlig verschuldeten Staaten der Erde verkauft werden. Der mit der Geldökonomie untrennbar verbundene Renditeanspruch bringt es mit sich, dass Erträge umso geringer eingeschätzt werden, je später sie anfallen. Deshalb besitzen selbst „ewig nutzbare“ Forderungspotentiale wie zum Beispiel Grundstücke einen nur endlich hohen ökonomischen Wert; ein bedeutsamer Sachverhalt, der auch erklärt, weshalb die Ansprüche nachfolgender Generationen (von den Ansprüchen der Natur ganz zu schweigen) in der ökonomischen Bewertung mehr oder weniger „untergehen.“

Auch der Preis für die Sonnenrechte ist berechenbar und letztlich bezahlbar. Bis dahin wird die Mauttechnik jeden Sonnenstrahl erfassen können, den wir zu welchem Zweck auch immer nutzen.

Und alles, was mittelbar und unmittelbar von der Sonne lebt, wird kostenträchtig, mithin also wirklich alles. Liebe und Gemeinschaft, Natur und Ethik verlieren ihren Wert an sich und werden als zu teuer und überflüssig genauso wegrationalisiert wie heute schon Arbeitsplätze, Ruhezeiten oder das Schwätzchen am Fahrkartenschalter. Mensch und Natur werden in jeder ihrer Handlungen und Wirkungen nur noch ökonomische Kosten oder Güter sein.

Dieses Szenario ist nichts als eine konsequente Fortschreibung der anhaltenden Ökonomisierung von immer mehr Lebensbereichen; zugleich markiert es deren Endpunkt. Denn wenn alles miteinander in ökonomischer Beziehung steht, wird alles handelbar und nichts mehr beständig sein. Vermögen als Gegenwert zukünftiger Erträge verliert seinen Sinn, wenn Produkte und deren Preise in der global vernetzten Ökonomie sich im Sekundentakt ändern.

Dann schaukeln sich unkontrollierbar Gewinnerwartungen einerseits und Vermögen als deren Gegenwert andererseits in einer Rückkopplung zu virtuellen Größen gegenseitig auf oder löschen sich gegenseitig aus, so wie es jeder mittels einer auf ihren eigenen Monitor gerichteten Videokamera bildlich nachvollziehen kann.
Spätestens dann wird offenbar, dass die Ökonomie auf einer Fiktion aufbaut, nämlich materielle Zukunftssicherung in Geld ausdrücken und speichern zu können.

Was man wann zu welchem Preis unter welchen Voraussetzungen wo und überhaupt erhält, benötigt oder verkaufen kann – dieses als „Vermögen“ in Zahlen zu fassen, war von Beginn an ein Denkfehler.

In Zeiten weniger ökonomischer Güter, langsamer Strukturänderungen und kleiner, abgeschlossener Wirtschaftsräume schlummerte dieser Denkfehler unmerklich, blitzte lediglich in Fällen von Hyperinflation oder groben Bilanzfälschungen auf, ohne als solcher erkannt oder in der gängigen Diskussion benannt zu werden. Und so wird bis heute – diesen Denkfehler nicht erkennend und Zweifel unterdrückend – die Mehrung von Vermögen und die Minderung von Kosten betrieben, stärker als je und blind gegenüber den hierdurch verursachten Schäden an Mensch, Gesellschaft und Natur.

Doch was bedeutet Vermögen in Zeiten ständiger Umbrüche, wechselnder Produkte und ungewisser gemeinschaftlicher Leistungen wie Bildung, Gesundheit und nicht zuletzt der Rente? Dies wird in der schwirrenden, ungehemmten, weder fass- noch aufhaltbaren globalen Ökonomie überhaupt nicht mehr vorherzusagen sein. So verwandelt sich das in Geld bezifferte Vermögen umso mehr in einen Wahn und das Weltgeschehen in einen sozialen und ökologischen Wahnsinn, je mehr das Vermögen in seiner Sucht nach ständiger Vermehrung über greifbare Dimensionen hinauswächst, Immaterielles und Ideelles vereinnahmt und die Staaten unter Schuldenbergen begräbt.

Ausgangspunkt dieser Expedition war die Frage nach der Natur der Kosten. Diese spiegeln nicht notwendig reale Knappheiten wider, sondern Minderungen des ökonomischen Vermögens. Die Einführung von Eigentum macht andererseits unbegrenzte Ressourcen teuer – tagtäglich zu erleben an den real nicht existierenden Kosten für die Arbeitskraft und bedrückend vorstellbar im Falle eines Verkaufs der Sonnenrechte. Dieses Szenario macht zugleich deutlich, dass sich der ursprüngliche Zweck von Eigentum, nämlich die Sicherung der materiellen Zukunft, in sein Gegenteil verkehrt.

Der Geburtsfehler der Ökonomie, zukünftige Leistungen Dritter zum Zweck der Zukunftssicherung quasi „einfrieren“ zu lassen und deren realen Umfang beziffern zu wollen – er pervertiert ihren Dreh- und Angelpunkt, das Vermögen, umso mehr zu einem alles Leben aufsaugenden oder eliminierenden „Schwarzen Loch,“ je stärker es durch die Ökonomisierung vorangetrieben wird.

Und je mehr dieser Denkfehler zum alles durchdringenden System wird, umso stärker müssen zwangsläufig die Widersprüche auftreten: Wenn plus (= gern tätig sein) plötzlich minus (Arbeitskosten) ist und null (virtuelles Termingeschäft) gleich plus (Gewinn) und minus (Verbrauch natürlicher und gesellschaftlicher Ressourcen) gleich plus (Effizienzsteigerung) sein soll, und unendlich (Leben wie auch dessen Ursprung, die Sonne) auf endliche Geldbeträge reduziert wird, dann sind alle Verheißungen einer nachhaltigen Ökonomie verlogene Beschwichtigungen. Es sei denn, wir verkaufen tatsächlich die Sonne – dann ist unsere Welt nur noch widerspruchsfreie Ökonomie.

Wir sollten daher die Frage nach dem Preis der Sonne ebenso fallen lassen wie die sonstige ökonomische Verwertung alles Lebendigen, den permanenten Kostendruck und den Vermögen steigernden Geiz bei Steuern, Zinsen und Preisen, andernfalls entledigen wir uns zum Schluss nicht nur des ungetrübten Sonnenbads.

Das Denken in Kosten steigert die Vermögen und beraubt sie gleichermaßen ihres realen Wertes. Um reale Leistungen für die Zukunft zu sichern, braucht es aber neben einer intakten Umwelt auch gestaltende Köpfe, anpackende Hände und eine verlässliche Solidarität. Diese haben die Not gewendet nach den kleinen und nach den großen Katastrophen, nicht ein virtuelles Kapital.

Dies zu verstehen bedarf es nur des Verstandes, nicht einer weiteren Katastrophe. Der ausführliche, zusammen mit Henning Osmers verfasste Bericht erschien kürzlich unter dem Titel „Zukunft kann man nicht kaufen – Ein folgenschwerer Denkfehler in der globalen Ökonomie“ im Horlemann-Verlag, Bad Honnef.

 

Quelle: HUMONDE: Ein Denkfehler wird zum System - Das Schwarze Loch der Ökonomie
http://www.humonde.de/artikel/10047


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